Mittwoch, 13. November 2024
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VGMS Symposium 2024: Braucht es mehr Mut zum Weizen?

Berlin. (vgms) Eine gesunde und ausgewogene Ernährung, die zugleich die Umwelt und die Ressourcen unseres Planeten schützt, rückt immer mehr ins Blickfeld. Doch wo stehen Getreideprodukte ernährungswissenschaftlich betrachtet? Was ist Verbraucherinnen und Verbrauchern wirklich wichtig? Wie schafft der Weizen den Weg raus aus der «Bad-Guy-Rolle»? Darüber diskutierte das 17. Wissenschaftliche Symposium des Verbands der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft VGMS in Würzburg intensiv. Dabei wurde klar: Das Thema Ernährung ist emotional aufgeladen, und gleichzeitig empfinden es die Menschen zunehmend als anstrengend. Um Komplexität zu reduzieren, wünschen sie sich von Politik und Lebensmittelherstellern klare Orientierung zu den Themen Gesundheit und Nachhaltigkeit. Die DGE-Ernährungsempfehlungen bestätigen, dass Getreide auf den Speiseplan gehört. Getreide liefert wesentliche Ballast- und Mikronährstoffe, die wichtig für die Prävention ernährungsbedingter Krankheiten sind. Die wissenschaftliche Datenlage zeigt ganz klar: «Weizen ist Freund, nicht Feind» in der Ernährung. Über 90 Prozent der Bevölkerung können unbeschwert Getreide essen. Und mit Blick auf die oft kritisch diskutierten modernen Weizensorten ist festzustellen, dass ihr allergenes Potential sich nicht von dem alter Landsorten unterscheidet. Diese Fakten gelte es gut aufbereitet zu kommunizieren und mit Blick auf die zahlreichen Desinformationen zum Thema ein vernünftiges Maß an Ignoranz zu üben.

So lautet das Fazit der Veranstaltung. Die Vorträge und Diskussionen im Einzelnen:

  • Annette Neubert und Rebecca Nowak von Nestlé eröffnen das traditionsreiche Symposium mit der Vorstellung der Ergebnisse der Nestlé Studie 2024 «So is(s)t Deutschland». Sie zeigen, dass die Ansprüche vieler Menschen an ihre Ernährung und an sich selbst gestiegen sind. Zugleich ist die Zufriedenheit aber gesunken: «Die Menschen wollen Idealen wie der Gesundheitsoptimierung, der Mäßigung oder moralischen Anforderungen gerecht werden.», so Neubert. Diese Ideale mit Alltagszwängen zu vereinbaren führe dabei zu einem hohen gefühlten Druck und letztendlich zu Frust.
     
    Den Weg aus dem Dilemma präsentiert Rebecca Nowak, die vier Lösungsstrategien der Verbraucher vorstellt: Neue Mäßigung, Pragmatismus, verdeckter Genuss im Nebenbei und ein Retro-Trend zurück zur heilen, deftigen Genusswelt. Und natürlich wünschen sich Verbraucher von Lebensmittelherstellern und Politik Entlastung vom schwierigen Ernährungsalltag: «Der Auftrag an die Hersteller lautet, Lösungen anzubieten und so zur Entlastung im schwierigen Ernährungsalltag beizutragen.», resümiert Nowak. Annette Neubert ergänzt: «Es ist wichtig, die Bedürfnisses von Kunden an die Produkte zu verstehen und daraus Angebote zu entwickeln».
  • Anke Müller vom VGMS berichtet über die aktuellen Hafertrends und die Initiative der Hafermühlen, den Anbau von Hafer in Deutschland auszubauen. Die Nachfrage nach Hafer boomt seit Jahren. Er ist bei Verbraucherinnen und Verbrauchern beliebt und in der öffentlichen Wahrnehmung grundsätzlich positiv besetzt. Ihr Fazit: «Hafer bringt sowohl ernährungsphysiologisch als auch als Gesundungsfrucht auf dem Acker vieles mit. Egal ob klassisch, als Porridge oder Milch respektive Drink, trendy gekeimt oder als Schokoladenalternative: Hafer ist gekommen, um zu bleiben.»
  • Professor Martin Smollich vom Institut für Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein stellt die im Jahr 2024 aktualisierten lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) vor. Der Orientierungswert für die Getreidezufuhr für gesunde Erwachsene liegt darin bei rund 300 Gramm am Tag. Neben den Getreideprodukten zählen auch Pseudogetreide sowie Kartoffeln und Süßkartoffeln in diese Gruppe. Damit sind die Empfehlungen für die Getreidezufuhr unverändert geblieben. «Weniger Getreide wäre aus ernährungsmedizinischer Sicht schlecht, vor allem wegen deren Gehalt an Ballaststoffen», so Smollich. Auch wegen ihres Gehaltes an Mikronährstoffen wie Zink, Eisen, Magnesium und Jod gehören sie unbedingt zu einer gesunden Ernährung. «Kritik an den Empfehlungen der DGE, wie sie in vielen Medien zu lesen ist, beruht auf objektiv falschen Grundannahmen und ist schlicht falsch», so Smollich weiter. Zuletzt stellt er zur Diskussion um hochverarbeitete Lebensmittel fest: «Die Idee, aus dem Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln pauschal gesundheitliche Effekte ableiten zu können, ist wissenschaftlich nicht haltbar».
  • «Ohne Weizen wird es schwierig, sowohl für die Welt- als auch die individuelle Ernährung», sagt Karin Bergmann, Ökotrophologin und Ernährungskommunikatorin. Die Frage, warum vor allem Weizen in der Medien- und Presselandschaft oft als ungesund dargestellt wird, hat sie eine einfache Antwort: «Es lässt sich vermuten, dass dahinter oftmals ökonomische Interessen stehen». Wissenschaftlich betrachtet sind die Vorurteile gegen Weizen längst widerlegt, nach aktueller Datenlage nicht nachweisbar oder physiologisch nicht plausibel. Wirklich verzichten auf Weizen müssen Weizenallergiker oder Zöliakie-Patienten. Mehr als 90 Prozent der Europäer können Lebensmittel aus oder mit Weizen oder Gluten problemlos essen. Auch weitere Zahlen und Fakten widerlegen gängige Vorurteile gegen Weizen: So zeigt sich etwa, dass es in Ländern mit hohem Weizenkonsum, wie etwa in Frankreich oder Italien, weniger adipöse Menschen gibt als in Deutschland. So ist der jahrzehntealte Spruch «Weizen macht dick» nicht haltbar. Klarer Kommunikationsauftrag von ihr: «Mehr Mut zum Weizen. Mehr Zahlen und wissenschaftliche Fakten kommunizieren, denn Weizen ist für nur wenige Menschen Feind – für ganze viele ist er Freund».
  • Wo die rechtlichen Grenzen des Weizen-Bashings liegen, zeigt Rechtsanwältin Bärbel Hintermeier von LEKKER Partners. Im Bereich Werbung empfiehlt sie, sich eher auf die eigenen Vorteile zu besinnen, statt vermeintliche Mängel von Konkurrenzprodukten in den Blick zu nehmen. Den rechtlichen Rahmen gegen Falschaussagen vorzugehen setzt das Wettbewerbsrecht. So können sich nicht nur Wettbewerber gegenseitig in die Schranken weisen, auch qualifizierte Wettbewerbshüter und Verbraucherschutzorganisationen können gegen Fehlinformationen juristisch vorgehen. Gegen «Fehlinformation» in der Presse kann presserechtlich vorgegangen werden, zu bedenken ist dabei: «Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut.»
  • Professor Markus Lehmkuhl vom Department für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie spricht zum Thema: «Wider den Unsinn in Ernährungsdebatten? Herausforderungen einer vernunftbasierten öffentlichen Kommunikation». «Grain Brain, Weizenwampe, Leaky-Gut-Syndrom, drei Stichworte, die auf ein vitales Ideologisierungsgeschehen im Netz rund um das Thema Weizen hindeuten. Er mache dement, dick und frisst Löcher in den Darm. Sollte man überhaupt und wenn ja wie gegen solche Desinformationen vorgehen?» fragt Lehmkuhl. Seine Empfehlung: «Befreien Sie sich vom Zwang inadäquate Botschaften durch adäquate ersetzten zu wollen. Ich empfehle ein vernünftiges Maß an Ignoranz.» Seine Empfehlung leitet er aus den Daten zur Verbreitung von Informationen wie der Verbreitung von Desinformationen in den Medien ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass das eine oder das andere eine messbare Resonanz erzeugt, sei äußerst gering. Ernährung sei mittlerweile zum Distinktionsmerkmal geworden. Sein Rat: «Um Desinformationen zu begegnen, braucht es richtige, gut aufbereitet Informationen».
  • Nora Jahn vom Karlsruher Institut für Technologie stellt die Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojektes über ursprüngliche und moderne Weizensorten vor. Ziel des Projektes ist es herauszufinden, ob moderne Weizensorten durch die Selektionskriterien für die Züchtung ein höheres immunreaktives Potential aufweisen. Es sind verschiedene alte Weizenlandsorten, die züchterisch weitgehend unbearbeitet geblieben sind, und moderne Weizensorten analysiert worden. Die Ergebnisse sind eindeutig: Gluten-Gehalte, die Verteilung von Albumin und Globulin oder die Gehalte von ATIs und FODMAPs unterschieden zwischen alten Landsorten und modernen Sorten nicht wesentlich. So weisen alte Sorten zwar einen höheren Anteil an Gliadinen und moderne Sorten einen höheren Anteil an Gluteninen auf, «insgesamt zeigen die Ergebnisse aber klar, dass alte Landsorten und moderner Weizensorten ein gleichwertiges immunreaktives Potential aufweisen. Es lässt sich also vermuten, dass sie gleich gut verträglich sind.»